Die aktuelle Verhaltensforschung an frei lebenden Wolfrudeln zeichnet heute ein völlig anderes und differenzierteres Bild von den Beziehungen in einem Wolfrudel. Nach neuesten Erkenntnissen sind harte körperliche Auseinandersetzungen unter frei lebenden Wölfen die Ausnahme (auch ein Alphawolf kann keine Verletzung riskieren, die seine Fähigkeit zu jagen, einschränken würde). Ist das Thema Dominanz bei Hunden also nur ein Märchen?
Verhalten im Rudel
Die meisten Interaktionen zwischen den Rudelmitgliedern dienen der Konfliktvermeidung. Auch die der Alphatiere.
Im Gegenteil, die Alphatiere zeichnen sich in der Regel durch besonders tolerantes und freundliches Verhalten aus. Ihre Rolle erlangen sie, weil sie besonders erfahrene Tiere sind und zwar im angemessenen Umgang miteinander (zum Beispiel wird das unerwünschte Verhalten von einem Jungtier, der Situation angemessen, unterbunden), bei der Beschaffung von Nahrung (Jagd) und der Vorgehensweise beim Auftreten von Problemen (Flucht oder Angriff). Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „gute Ratgeber“.
Die Beobachtungen zeigen außerdem, dass in bestimmten Situationen einzelne Tiere die Führungsaufgabe übernehmen, die gar nicht Rudelführer sind, weil dazu eine bestimmte Art von Erfahrung erforderlich ist, die gerade dieses Tier besitzt.
Richtig ernsthafte Kämpfe gibt es nur, wenn wichtige Ressourcen knapp sind. Nämlich in Zeiten einer großen Hungersnot oder wenn es um die Fortpflanzung geht. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass heutzutage das körperliche Unterwerfen eines Hundes durch den Menschen von mehr und mehr Fachleuten und Ausbildern als gefährlicher Kunstfehler betrachtet wird.
Dominanzproblem mit Hund
Bei der Hundehaltung stellen wir fest, dass die meisten Menschen, die sagen, sie hätten ein „Dominanzproblem“ mit ihrem Hund, in der Regel eines der beiden folgenden Dinge meinen:
• Sie haben ein Problem mit dem Befolgen von Hörzeichen.
• Oder, ihr Hund bedroht sie.
Die ganze Idee von der Dominanz bei Hunden ist so verbreitet, dass ganze Hundeschulen auf der Prämisse gründen, wenn man nur entsprechende Dominanz dem Hund gegenüber ausübe, ergebe sich der Gehorsam von selbst. Das ist eine gefährliche Sache.
Das bedeutet nicht nur, dass unsere Hunde in vielen Alltagssituationen völlig überzogenen Strafen ausgesetzt werden, wodurch sich die Probleme wie Nicht – Kommen (Vertrauensverlust) und Drohen (angstbedingtes Wehren) noch verstärken, sondern es bedeutet auch: Unnötig im Trüben zu fischen!!
Das soll nicht heißen, dass Hunde nicht durchaus auch „Hierarchien“ bilden. Natürlich tun sie das. Aber, das Wissen darum nützt nichts, um Gehorsamsprobleme anzugehen!
Hunde können auch bei Nacht sehr gut sehen und dennoch wird niemand eine „Netzhaut-Operation“ vorschlagen, um ein bestimmtes Gehorsamsproblem bei einem Hund anzugehen, oder? Die Rudeltheorie ist einfach nicht das Modell, mit dem man am besten bestehende Probleme angeht!
Lehren & Lernen von Hunden
Die Reaktion auf Hörzeichen hat nichts mit Dominanz, sondern mit Lehren und Lernen zu tun.
Wenn ich meinem Hund das Kommen auf Rufen lehre, die Übung so aufbaue, dass er den Ansprüchen gerecht werden kann, er für das Kommen eine gute Belohnung erhält, dann bin ich ein „guter Ratgeber“. Wenn ich ihm beibringe, dass das Laufen an lockerer Leine angenehme Konsequenzen nach sich zieht, während das Ziehen quasi zu nichts führt, bin ich ein „guter Ratgeber“. Automatisch werde ich dadurch zu jemandem, dem man sich anvertraut, von dem man sich führen lässt (zum Rudelführer).
Die Autorin Melanie Weber-Tilse hat zwei Hunde und ist Redakteurin bei planethund.com.